Private Kunden: das unterschätzte Ausfallrisiko: 10 % der Deutschen sind überschuldet: Die Zahlen hinter der Zahl.

Allgemein,

ein Aufsatz von Olaf Döneke, Geschäftsführer CRIF Dortmund

Überschuldung = SVZ +W + v*0,317 + w*0,235 + Y*0,246 + z*0,2

Diese Formel berechnet nicht den Energieverbrauch einer startenden Mondrakete, sondern ist der ernst zu nehmende Versuch einer wissenschaftlich sauberen Messung von privater Überschuldung in Deutschland. Die Gleichung ist das Ergebnis einer im Jahr 2021 vorgelegten Studie im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung mit dem Namen „Private Überschuldung in Deutschland, Auswirkungen der Corona-Pandemie und die Zukunft der Schuldnerberatung“.
Die lesenswerte Arbeit wurde im Licht der Corona-Pandemie beauftragt mit dem Ziel, Überschuldung in Deutschland empirisch belastbar zu untersuchen und politische Empfehlungen abzuleiten. Dieter Korczak und sein wissenschaftliches Team stellten klar, dass es keine eindeutige allgemeingültige Defininition von Überschuldung gibt.

Überschuldung, eine Frage der Definition

Die regelmäßig erscheinenden Statistiken, z.B. vom Statistischen Bundesamt, dem institut für finanzdienstleistungen und der Creditreform, so die Studie, seien wissenschaftlich umstritten, da sie auf unterschiedliche Definitionen gestützt sind. „Je nachdem, auf welche Definition man sich stützt, wird der Kreis der Überschuldeten enger oder weiter gezogen und kann als prekäre Lebenslage, relative oder absolute Überschuldung verstanden werden.“

Mit dem Ziel, eine realitätsnahe Einschätzung des Ausmaßes von Überschuldung herleiten zu können, in dem die verschiedenen Lebenslagen von Betroffenen abgebildet werden, wurde ein s.g. Indikatorenmodell entwickelt, das für die Messung verschiedene nachvollziehbare Variablen nutzt, die mit Überschuldung in Verbindung stehen. Auch wenn die sorgfältig recherchierten Fallzahlen teils schon wenige Jahre alt sind, helfen Sie, das Ausmaß von Verschuldung aus Sicht von Schuldnern und Gläubigern eindrucksvoll zu beleuchten.

Interessante Fallzahlen der Studie auf einen Blick

Indikator Fallzahlen Datenquelle
Stundung von Kreditverträgen Zahlungsstörungen insgesamt 2018: Schufa Holding AG 2019
9,2 % aller Verbraucher_innen
6,2 Mio Verbraucher_innen
Kündigung von Kreditverträgen 18,4 Mio. Ratenkredite Schufa Holding AG 2019
Kündigungen: 2,1 % (386.400)
Pfändungsschutzkonto 2 Mio. Verbraucher_innen Deutscher Bundestag 2020
Energiesperrungen/-ratenzahlungen 2018: 4,9 Mio. Sperrandrohungen Strom Bundesnetzagentur 2019
296.000 Stromsperrungen Bund der Energieverbraucher e.V.2020
Mietrückstände 2019: 1,638 Mio. Mieter_innen Bundesverband deutscher Wohnungs- unternehmen (GdW)
Aufträge für Zwangsräumungen 2018: 54.000 Fälle (ohne Bayern) Redaktionsnetzwerk Deutschland/
Bundesjustizministerium
Deutscher Bundestag 2019
Obdachlosigkeit 2018: 678.000 Menschen BAG Wohnungslosenhilfe e.V. 2019
Tafel Nutzer 2019: 1,65 Mio. Menschen Tafel Deutschland e.V. 2020
Mahnverfahren Mahnverfahren Destatis 2018: Destatis 2019a
4,8 Mio. Fälle
Antrag auf Haftbefehl zur Erzwingung der Vermögensauskunft 2018: 732.000 Fälle Destatis 2019a
Schuldnerverzeichnis Eintragungsanordnungen 2018:
2.391 Mio. Fälle
Destatis 2019a
hinterlegte Vermögensverzeichnisse (führer: eidesstattliche Versicherung) 2018: 592.000 Fälle Destatis 2019a
eröffnete Verbraucherinsolvenzverfahren (Privatinsolvenzverfahren) 2019: 79.000 Fälle Destatis 2019a
2018: 84.000 Fälle
2017: 89.000 Fälle
Klient_innen von Schuldnerberatungsstellen 2018: 582.000 Klient_innen Destatis 2019a

Nach Recherche und Auswertung der Daten, bei der Überschneidungen und Aussagekraft einzelner Indikatoren bewertet wurden, hat das Studienteam sich dafür entschieden, für die Schätzung der Überschuldungszahlen nicht die in der Tabelle genannten Daten zu verwenden, sonder diese zu verdichten und mit einer Standardisierung in Koeffizienten umzurechnen.

Indikator Indikatordaten Koeffizienten
Zahlungsstörung/Ratenkredit (v) 2.900.000 0,317
Mahnverfahren/Inkasso (w) 4.789.663 0,235
Energieschulden (y) 1.240.000 0,246
Wohnungslosigkeit (W) 325.000
Mietschulden (z) 1.638.000 0,2
Schuldnerverzeichnis (SVZa) 2.391.543
„harte Negativmerkmale“ Schufa (SVZb) 3.250.000
„harte Negativmerkmale“ Creditreform (SVZc) 4.010.000
Summe 5,39 – 7,01 Mio.

Daraus ergibt sich die folgende Gleichung:

Überschuldung = SVZ +W + v*0,317 + w*0,235 + Y*0,246 + z*0,2

Fazit

  • Die Studie der Friedrich Ebert Stiftung errechnet aus ihrer Formel eine Anzahl von zwischen 5,39 und 7,01 Mio. überschuldeter Menschen in Deutschland für das Jahr 2019.
  • Bei rund 69 Mio. erwachsenen und somit voll geschäftsfähigen Deutschen beträgt die Überschuldungsquote somit mehr als 10 %.
  • Nur 1,1 bis 1,35 % der betroffenen überschuldeten Menschen nehmen jährlich das Entschuldungsinstrument der Verbraucherinsolvenz in Anspruch.
    Hinweis des Autors: Diese Zahlen gelten auch unter Zugrundelegung der aktuellen Zahlen an Verbraucherinsolvenzen für 2022 und sind insofern interessant, da der Gesetzgeber, die Restschuldbefreiung im Jahr 2012 von 5, bzw. 6 Jahren auf nunmehr 3 Jahre verkürzt hat. Es bleibt also abzuwarten, ob die gestiegene Attraktivität der Privatinsolvenz künftig intensiver genutzt werden wird.
  • Mindestens genau so interessant wie die Dimension des Problems ist die Erkenntnis, welcher Herausforderung sich die Wirtschaft in diesem prekären Umfeld von überschuldeten Kunden, Mietern oder Kreditnehmern ausgesetzt sieht. Die dargestellen Fallzahlen unterstreichen deutlich, welchen Aufwand Unternehmen betreiben müssen. Die sich ergebenden Forderungsausfälle sowie die Kosten, um sich vor zahlungsunfähigen Kunden zu schützen und zahlungsgestörte Forderungen zu realisieren, wären ein spannendes Thema für eine eigene Studie.

Dieser Aufsatz beschäftigt sich nur mit einem Teilinhalt der o.g. Studie, der sich mit der Messung von Überschuldung beschäftigt.  In der Arbeit werden darüber hinaus die Einflussfaktoren der Corona-Pandemie auf die Überschuldung sowie der Zustand der Schuldnerberatungen in Deutschland beschrieben. Hier finden Sie den Downloadlink für die gesamte Studie.